29.06.2022

Interview mit Sascha Wiehager: Stress und psychische Belastungen in der Baubranche

BETTER WORK INITIATIVE - Sascha Wiehager

Das Thema Stress und psychische Belastungen betrifft viele Menschen und Unternehmen. Aber wie wird das Thema eigentlich in der Baubranche behandelt? Welche Faktoren sind für Entstehung von Stress ausschlaggebend und mit welchen Lösungen und Maßnahmen können Unternehmen dieser Entwicklung begegnen. Dazu haben wir im Rahmen der BETTER WORK INITIATIVE mit Dipl.-Kfm. Sascha Wiehager gesprochen. Er ist Geschäftsführer und Institutsleiter bei der BWI-Bau GmbH Institut der Bauwirtschaft und kennt daher die Herausforderungen der Branche besonders gut.

Psychische Belastungen und Stress nehmen auch in der Baubranche zu. Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen dafĂĽr?

Grundsätzlich gibt es aus meiner Sicht drei Faktoren. Zum einen haben wir die Vorgaben und Strukturen des Unternehmens, für das ich arbeite. Wie hoch ist die Arbeitslast und vor allem, wie gut ist das Unternehmen strukturiert? Als zweiten wesentlichen Faktor sehe ich die persönliche Arbeitsweise. Wieviel mute ich mir zu, wie strukturiert bin ich und wie realistisch teile ich mir meine Arbeit ein? Und der dritte Aspekt sind ggf. Belastungen und Stresssituationen im privaten Umfeld, beispielsweise durch Betreuungspflichten aller Art. Aus diesen Aspekten ergeben sich mitunter ganz unterschiedliche Ausgangslagen für Stresssituationen. 

Kommt dabei einem Faktor eine besondere Bedeutung zu? 
Das kann man so nicht sagen. Denn so unterschiedlich die Belastungen sind, so unterschiedlich gehen die Menschen auch damit um. Für die einen ist die plötzliche Pflegebedürftigkeit von Angehörigen ein immenser Faktor, für die anderen eher der zunehmende Druck auf der Arbeit. Da geht es viel um Resilienz. Also darum, wie man auf Probleme und Veränderungen reagiert bzw. damit umgeht. Und das ist von Mensch zu Mensch äußerst unterschiedlich. 

Würden Sie sagen, dass die Baubranche besonders anfällig für Stress ist?
Ich glaube, dass die Aufgaben insgesamt anspruchsvoller werden und wir einfach überall mehr leisten müssen. Das trifft auf die Baubranche genauso zu, wie auf andere Branchen. Wir unterliegen in der Markwirtschaft gewissen Gesetzmäßigkeiten, siehe Lieferketten. Und im Zuge der allgemeinen, vor allem digital getriebenen Beschleunigung nehmen auch die psychischen Belastungen zu. Der Leistungsdruck ist in vielen Bereichen hoch – gerade in einer führenden Industrienation, die durch Innovation und Effizienz immer wieder neue Maßstäbe setzen muss. 

Gibt es denn in der Baubranche besondere Faktoren, die zu Stress fĂĽhren?
Wie in allen Branchen kommt es ganz stark auf das Management an. Denn Entscheidungen der Führungsebene oder suboptimale Strukturen können ganz entscheidend dazu beitragen, dass Stress entsteht – selbst wenn man als "Ausführender" eigentlich gut organisiert ist. Wenn beispielsweise die tatsächliche Situation auf der Baustelle stark von den geplanten Parametern abweicht, müssen schnell Entscheidungen getroffen bzw. Maßnahmen ergriffen werden. Wenn sich dieser Prozess in die Länge zieht und Entscheider dann unter Druck ggf. falsche Entscheidungen treffen, leiden am Ende alle Ausführenden darunter. Zudem steigt das Risiko, dass sich Entscheider in solchen Belastungssituationen auch anderer fachlicher Arbeit nicht mehr mit der Energie zuwenden können, die eigentlich nötig wäre. Ein Teufelskreis. 

Mit anderen Worten: Organisation ist alles?
Fast. Auf jeden Fall kann eine gute, wertebasierte Organisation dazu beitragen, den Stresslevel deutlich zu reduzieren. Zahlreiche Unternehmen sind strukturell in der Regel schon recht gut aufgestellt. Bei einigen Unternehmen ist aber durchaus noch Luft nach oben. Dabei lassen sich schon mit einfachen Übersichten und Tools zur Kapazitätenplanung viele Reibungspunkte vermeiden. So können Arbeitsspitzen entzerrt und Lasten besser verteilt werden – zwei Grundvoraussetzung für ein Arbeiten mit möglichst wenig Stress. Hier bietet gerade das Thema industrialisiertes Bauen messbare Vorteile. Wichtig ist die Erkenntnis, dass Unternehmen Gewinne in der Baubranche vornehmlich durch Organisationsoptimierung erzielen. Preispolitische Spielräume bestehen nur dann, wenn die Akteure es schaffen, ähnlich wie in einem Produktmarkt zu agieren. Hierzu haben Prof. Thomas Bauer und mein Vorgänger in der Institutsleitung, Prof. Ralf-Peter Oepen, in der Ökonomie des Baumarkts ausführlich und treffend geschrieben.

Sie sagen also Organisation ist FAST alles? Worauf kommt es noch an?
Bei dem, was Unternehmen maßgeblich beeinflussen können, spielen neben der Organisation noch die Themen Werte und Leitbild eine entscheidende Rolle. Wenn ich als Unternehmer Leitplanken, die mein Handeln bestimmen, habe, so kann ich meine Entscheidungen an gewissen Richtlinien ausrichten. Indem ich eine gute Wertebasis schaffe, kann ich auch bei den Mitarbeitenden für eine positive Stimmung sorgen und Entscheidungen sowie Regeln nachvollziehbarer erscheinen lassen. Sei es, weil ich mir nachhaltiges Wirtschaften auf die Fahnen schreibe oder weil ich dem Wohl der Belegschaft diene. Solche Werte und Leitbilder wirken sich auf die Wertemuster sowie die Leistungsbereitschaft der Mitarbeitenden aus. Und nicht zuletzt aufgrund zunehmender Anforderungen hinsichtlich Lieferkettengesetztes bzw. der EU-Taxonomie werden solche Punkte ohnehin immer wichtiger. 

Warum sind Wertemanagement und Organisation aus Ihrer Sicht so wichtig?
Sowohl eine gute Organisation als auch eine gute Wertebasis sorgen dafür, dass Mitarbeitende weniger in Stresssituationen kommen. Die Gefahr ständiger Überforderung wird reduziert und das Arbeitsklima verbessert sich nachhaltig. Und gerade der Fachkräftemangel zwingt Unternehmen dazu, sich intensiv mit diesen Themen auseinander zu setzen. Nicht nur, weil andernfalls Arbeitnehmer lange ausfallen können oder Mitarbeitende einfach kündigen. Auch weil sich negative Faktoren wie ein schlechtes Arbeitsklima und andauernder Stress im Alltag schnell unter potenziellen Bewerbern herumsprechen. Und das ist angesichts der aktuellen Arbeitsmarktsituation wenig wünschenswert. Gerade unter jungen Menschen, die ins Berufsleben starten wollen, spielen weiche Faktoren eine besondere Rolle. Und wenn Nachwuchskräfte das Gefühl haben, dass sich die Betriebe nicht um die Bedürfnisse ihrer Angestellten kümmern, fallen diese Unternehmen durchs Raster. 
Hinzu kommt, dass soziale Indikatoren zunehmend eine Rolle bei der Bewertung von Unternehmen spielen werden, z. B. die sog. Sozialtaxonomie. Schon jetzt findet z. B. im Zuge des CSR-Reportings eine Auseinandersetzung mit diesen Themen statt.

Wie können Unternehmen konkret das Thema „Stress“ angehen?

Stichwort Organisation des Unternehmens: Wichtig ist erst einmal, dass sich Unternehmen mit den Bedürfnissen ihrer Beschäftigten auseinandersetzen. Und an erster Stelle steht hier der Dialog. Was kann verbessert werden und welche Maßnahmen sollten ergriffen werden? Allein die Offenheit ist schon ein wichtiges Zeichen. Und dann geht es vermutlich schnell um das Thema Organisation. Wie gesagt, kann man schon mit einfachen Maßnahmen und Tools viel bewirken. Wenn Strukturen und Prozesse im Zuge der Digitalisierung eh auf den Prüfstand kommen, können Unternehmen diese auch unter dem Gesichtspunkt der Belastungsreduzierung verbessern.

Stichwort Eigenorganisation: Es gibt mittlerweile sehr viele attraktive Angebote rund um das Thema „Stressmanagement“. Sei es, um Führungskräfte für dieses Thema zu sensibilisieren und sie zu besseren Organisatoren zu machen, sei es konkret für Mitarbeitende, die per Coaching vor allen in punkto Selbstorganisation und Umgang mit Stress geschult werden. Allerdings empfehle ich hier eindringlich, auf solche Coaches zu setzen, die eine psychologische Grundausbildung durchgemacht haben. 

Hintergrund der Arbeitnehmer*innen: Vor allem aber kann man mit diversen Angeboten Mitarbeitenden konkret in Belastungssituationen helfen. Es gibt beispielsweise Unternehmen, die ihren Angestellten im Falle einer Pflegebedürftigkeit eines Familienmitglieds schnell und unkompliziert Hilfe zur Verfügung stellen. Mit Maßnahmen, wie diesen, kann man ganz konkret helfen und vor allem ein wichtiges Zeichen setzen. 

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wiehager!
 


Â